Ein Fernziel der Evolutionsbiologie ist es, mechanistische Beschreibungen der Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt zu verwenden, um daraus Verläufe und Ergebnisse der Evolution zu rekonstruieren. Dieses Ziel wird aber nur selten erreicht, da diese Wechselwirkungen extrem komplex sind. Dies gilt insbesondere für mehrzellige Organismen: In ihnen spezialisieren sich Zellen und übernehmen unterschiedliche Aufgaben. Damit werden die verschiedenen Zelltypen auch unterschiedlich von ihrer Umgebung beeinflusst und interagieren mit ihr.
Prof. Dr. Martin Lercher, Leiter der Arbeitsgruppe Computergestützte Zellbiologie an der HHU, geht mit seinem Team diese Fragestellungen mit bioinformatischen Methoden an. Jüngste Fortschritte in der Informatik, die die Lösung und Optimierung großer mathematischer Systeme erleichtern, lassen die Forschenden hoffen, dass sie zukünftig komplexe Wechselwirkungsmodelle im Computer nachbilden und analysieren können.
In seinem nun vom ERC für die kommenden fünf Jahre geförderten Projekt MechSys (Mechanistic Systems modelling of plant environmental adaption and CAM photosynthesis engineering) will seine Arbeitsgruppe, basierend auf biochemischen und physikalischen Prinzipien, ein Computermodell entwickeln, mit dessen Hilfe ganz unterschiedliche Umwelteinflüsse auf die Pflanzenphysiologie und -fitness modelliert werden können. Dabei werden Pflanzenanatomie, Wassertransport, Photosynthese und der Stoffwechsel der Pflanzen berücksichtigt.
Mathematisch gesehen wird das Modell Wärmebilanzen sowie die Bilanzen von Stoffwechselprodukten (Metaboliten) und Wasser in verschiedenen Pflanzenorganen und in den Kompartimenten der Blattzellen umfassen. Die Netto-Kohlendioxid-Fixierung pro Bodenfläche über mehrere Tage hinweg wird als Maß für die evolutionäre Fitness verwendet. Je mehr Biomasse eine Pflanze bilden kann, desto besser geht es ihr. Für unterschiedliche Kombinationen aus Klima und Bodenbeschaffenheit – zum Beispiel im Hinblick auf enthaltene Mineralien, Nährstoffe und den Wassergehalt – schätzt dann das Modell die Fitness der Pflanzen ab.
Prof. Lercher: „Diese rein aus der Physik und Chemie der Pflanze abgeleitete Fitness wird es uns ermöglichen, die Evolution und auch das Vorherrschen verschiedener Pflanzentypen in bestimmten Lebensräumen zu klären.“
Um die Richtigkeit und Genauigkeit der Vorhersagen beurteilen zu können, dienen vorhandene Daten von Vertretern von „normalen“ C3-Pflanzen einerseits und wasserverbrauchseffizienten CAM-Pflanzen andererseits als Vergleichswerte. Die Bezeichnung C3 steht für den in den meisten Pflanzen vorkommenden Photosyntheseweg. Hierzu zählen die meisten Nutzpflanzen wie Weizen und Reis. CAM (Crassulaceen-Säurestoffwechsel) ist dagegen eine besondere Form der Photosynthese, die vor allem Arten ausgebildet haben, die an ein Wüstenklima angepasst sind. Bei ihnen ist der Kohlenstoffkreislauf verändert: Die Kohlenstoffaufnahme – in Form von Kohlendioxid aus der Luft – und dessen endgültige Fixierung in Form von Kohlenhydraten sind zeitlich getrennt. Hierdurch können die für die Pflanzen verfügbaren Wasserressourcen besser genutzt werden.
Mithilfe des Computermodells will das Team der HHU-Bioinformatiker den Evolutionsprozess hin zur CAM-Photosynthese simulieren, wobei sie sowohl Wüstenpflanzen als auch Epiphyten – auf anderen Pflanzen lebende Gewächse, zu ihnen gehören Orchideen – berücksichtigen. Darüber hinaus werden Evolutionspfade in Richtung CAM-Photosynthese und zur Sukkulenz – einer weiteren Anpassungsform an ein trockenes und heißes Klima – simuliert.
Die Forschung will auch Antworten geben im Hinblick auf den fortschreitenden Klimawandel und die daraus resultierenden Herausforderungen für die Landwirtschaft. Prof. Lercher: „Wir wollen mit MechSys vorhersagen, welche spezifischen Pflanzen für bestimmte – auch zukünftige – Klimate besonders und welche weniger geeignet sind. Hiermit können wir Strategien für die Entwicklung neuer Pflanzen vorschlagen, die resistent gegen immer häufiger auftretende Dürreperioden sind.“
Prof. Dr. Dr. Andrea Icks, Prorektorin für Forschung und Transfer, beglückwünscht Prof. Lercher zu seinem außerordentlichen Erfolg und ordnet die geplanten Forschungen in den größeren Zusammenhang der Pflanzenforschung an der HHU ein: „Martin Lercher ist als Mitglied des Exzellenzclusters CEPLAS bereits Teil der Spitzenforschung an der HHU. Sein Projekt wird im aktuell in Bau befindlichen ‚Plant Environmental Adaption Center‘ (kurz PEAC) der HHU beheimatet, an dem experimentelle Pflanzenforschung und bioinformatische Ansätze ineinandergreifen, um neue Nutzpflanzen für die zukünftige Welternährung zu schaffen. Diese breite Expertise in der Pflanzenforschung wird von den Forschenden der HHU getragen: Über die Anerkennung für Martin Lercher durch den ERC Advanced Grant freuen wir uns sehr.“
Zur Person
Martin Lercher (geboren 1967 in Köln) studierte Physik an der Universität zu Köln (Diplom 1992) mit den Nebenfächern Medizin, Mathematik und Philosophie. Seine Doktorarbeit zur Hochtemperatursupraleitung (Promotion 1996) schrieb er an der Universität Cambridge im Vereinigten Königreich (UK). Nach einigen Jahren in der Privatwirtschaft arbeitete er unter anderem am Max-Planck-Institut für Neurowissenschaften in Köln, an der Universität Bath (UK) und am European Molecular Biology Lab in Heidelberg. Er habilitierte 2005 in Köln im Fach Genetik. Seit dem Jahr 2007 ist er W3-Professor für Bioinformatik an der HHU und leitet die Arbeitsgruppe für Computergestützte Zellbiologie.
Prof. Lercher geht mit seiner Düsseldorfer Arbeitsgruppe biologische Fragestellungen mit informatischen Methoden an. So forscht er zur Evolution der Photosynthese und molekularer Netzwerke, zu den Organisationsprinzipien intrazellulärer Netzwerke und erarbeitet Modelle, um das Wachstum biologischer Organismen zu simulieren. Er kooperiert eng mit verschiedenen Instituten der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der HHU, unter anderem mit dem Exzellenzcluster CEPLAS. Seine Forschungsergebnisse veröffentlichte er in 100 begutachteten wissenschaftlichen Arbeiten, unter anderem in den Zeitschriften Nature, Science und Cell.
Für seine Forschungsarbeiten wird Lercher nun mit einem ERC Advanced Grant ausgezeichnet. Darüber hinaus warb er zahlreiche Stipendien und Forschungsprojekte ein, so unter anderem im Rahmen des „Life?“-Programms der Volkswagenstiftung.
ERC Advanced Grant
Der European Research Council ist die Förderorganisation für grundlagenwissenschaftliche Spitzenforschung der Europäischen Union. Sie ermutigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der EU, in wettbewerblichen Verfahren ihre Vorschläge für neue Forschungsprojekte einzureichen. In verschiedenen Förderlinien werden sowohl Nachwuchswissenschaftler als auch etablierte Forschende angesprochen.
Die ERC Advanced Grants zielen auf etablierte, aktive Wissenschaftler mit einer herausragenden Leistungsbilanz. Bei der Begutachtung der wissenschaftlichen Leistung sind die letzten zehn Jahre vor der Antragstellung maßgeblich. In die Bewertungen gehen neben der Exzellenz und dem Potential des Projektes unter anderem Publikationen in internationalen Zeitschriften, Patente, Konferenzbeiträge und Forschungspreise ein. ERC Advanced Grants werden in der Regel mit maximal 2,5 Millionen Euro für eine bis zu fünfjährige Laufzeit gefördert. Projektanträge werden in einem mehrstufigen Peer Review-Verfahren von unabhängigen Experten allein auf Basis der wissenschaftlichen Exzellenz bewertet.
Die besondere Auszeichnung, einen ERC Advanced Grant zu erhalten, dokumentiert auch die Erfolgsquote: Sie lag bei der aktuellen Ausschreibung bei rund 14,6 Prozent. Insgesamt erhalten europaweit 253 Forscherinnen und Forscher einen Grant.